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Internetgestützte Psychotherapie - Erfahrungen von 22 Patienten
Beitrag 3/2005 (veröffentlicht am 18.07.2005)


Diskussion

Von den Nutzern der „internetgestützten Psychotherapie“ (insbesondere des E-Mail-Kontaktes) wird diese Ergänzung der Behandlung durchweg (!) geschätzt. Dies liegt sicherlich auch daran, dass es sich um eine selektierte Gruppe handelt, die schon im Vorfeld der Behandlung „elektronische Kommunikation und Information“ kannte und nutzte.

Als besonders hilfreich erlebten die meisten Befragungsteilnehmern folgende Aspekte

-          Die relativ leichte und anonyme Kontaktaufnahme (ohne befürchten zu müssen, dass sich der Therapeut „gestört“ fühlt)

-          Die Herstellung von „Beziehung“ und Aufbau von Vertrauen bereits im Vorfeld der Erstbegegnung durch den schriftlichen Kontakt (erstaunliche Nähe trotz „digitalem Austausch“)

-          das Gefühl auch zwischen den Sitzungen nicht allein gelassen zu sein (Erleben von „seelischer Nähe“ und Zuverlässigkeit in der Beziehung)

-          die Möglichkeit, sich in schwierigen Situationen kurzfristig mitteilen zu können und eine Rückmeldung zu erhalten

-          Förderung der Motivation zwischen den Sitzungen

-          die vielen Vorteile des Schreibens (präzisere Formulierung, Möglichkeit nachzulesen und zu überprüfen, Mitteilung in entspanntem und „anonymeren“ Zustand, höhere Gewichtung und besseres Erinnern von Geschriebenem, günstiges Medium für verbal zurückhaltende Personen, Dokumentation der eigenen Entwicklung)

-          die Wirtschaftlichkeit (weniger Anfahrten, intensive Fernbetreuung, geringere Rückfallgefahr, Optimierung der Therapiesitzungen durch Vor- und Nachbereitung, Verkürzung der Gesamttherapiezeit, Kommunikationsaustausch zu Zeitpunkten, wo es für den jeweiligen Partner passt)

-          die zeitliche und örtliche Flexibilität (Kontakt auch bei Klinikaufenthalten)

Wie die Diagnosen andeuten (überwiegend Depression und Angststörungen), eignet sich die internetgestützte Psychotherapie vor allem für Patienten, die vorübergehend einer äußeren Regulationshilfe („Hilfs-Ich“) bedürfen. Ein solches äußeres (steuerndes) Objekt wird entbehrlich, sobald die inneren Strukturen nachgereift sind und die Betreffenden sich selbst regulieren können. Um dies zu erreichen, sind vor allem zu Beginn der Behandlung höherfrequente Interventionen geboten, die die anfänglich noch schwachen Strukturen bei Bedarf kurzfristig stützen. Diese Funktion kann das klassische Raster mit seinem relativ starren Muster aus meist langfristig zu gleichen Zeiten vereinbarten Sitzungen nur schwer erfüllen, zumal der Patient „zwischendurch“ ganz auf sich verwiesen ist und im Warten auf die nächste Sitzung nicht selten Rückschritte macht. Letzteren lässt sich mit Hilfe flexibler und relativ kurzer E-Mail-Kontakte in vielen Fällen begegnen, so dass sich vergleichsweise schnell stabilere Strukturen bilden als bei einer klassischen Therapie.

Wie die Erfahrungen mit der hier vorgestellten Gruppe zeigen, funktioniert das Konzept bei entsprechend selektierten Patienten. Sie müssen den Umgang mit dem Medium Internet können und mögen und sollten Freude am schriftlichen Ausdruck haben. Nicht umsonst machen oder machten rund 70 Prozent der Teilnehmer ein Studium. Männer (50 Prozent) sind im Vergleich zum üblichen Psychotherapie-Klientel überrepräsentiert.

Wenn die genannte Voraussetzungen vorliegen, ist meist schon nach fünf bis zehn Doppelsitzungen (kombiniert mit internetgestützter Psychotherapie) eine deutliche Stabilisierung des Patienten erreicht. Die Mehrzahl der Patienten ist dann wieder in der Lage, ihren Alltagsaufgaben zu genügen oder erlebt ihr Problem als deutlich weniger belastend. „In Ruhe“ und teilweise bei noch größeren Sitzungsabständen lassen sich dann weitere hilfreiche Einsichten, Einstellungen und Verhaltensmöglichkeiten erschließen und so die Selbstregulationsfähigkeit des Patienten langfristig optimieren. Für den „Krisenfall“ wird dem Patienten die Möglichkeit eingeräumt, sich jederzeit und unmittelbar per E-Mail zu melden. Allein das Wissen um diese Möglichkeit reicht oft aus, um die Krise letztlich doch selbstständig zu bewältigen. Für die rasche Wiedergewinnung der Arbeitsfähigkeit könnte sich die „internetgestützte Psychotherapie“ sogar zur Methode der Wahl entwickeln.

Die Sorge, „internetgestützte Psychotherapie“ könne den Patienten vom Therapeuten abhängig machen, wird von der Erfahrung durchweg widerlegt. Genau das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Vor allem stark im Leben engagierte Patienten regen oft an, Sitzungsabstände zu verlängern und sich stattdessen vermehrt per E-Mail auszutauschen. Offenbar fördert das Medium die rasche Internalisierung „guter steuernder Objekte“ und die Generalisierung guter Erfahrungen, die im persönlichen Kontakt mit dem Therapeuten gemacht wurden.

Für die „internetgestützte Psychotherapie“ liegen – soweit ersichtlich - bislang nur wenige publizierte Erfahrungen vor. Immerhin bestätigen mehrere Untersuchungen aus dem anglo-amerikanischen Schrifttum, dass auch eine Telefonbetreuung (teilweise durch nichtärztliches Personal) therapeutisch sehr effizient sein kann. Andere Beiträge beschreiben erfolgreiche Modelle der Depressionsbehandlung per Computer (Proudfoot et al. 2004) oder per Bildschirm als „Telepsychiatrie“ (Ruskin et al. 2004). Insofern gibt es bereits genügend Argumente dafür, sich allmählich von überholten Regularien der Psychotherapie zu trennen. Diese wurden in Zeitepochen entwickelt, in denen selbst das Telefon noch nicht weit verbreitet und E-Mail-Kontakte nicht einmal vorstellbar waren. Wenn schon überall in der Medizin technische Fortschritte dankbar genutzt werden, warum sollte das nicht auch in der psychotherapeutischen Medizin möglich sein?

Wie schon an verschiedenen Stellen des Beitrags anklang, hat eine internetgestützte Psychotherapie das Potenzial, in vielfacher Hinsicht wirtschaftlich zu sein. So lässt sich nicht nur die Zahl der (teuren) Sitzungen verringern und die Therapiedauer verkürzen. In der hier praktizierten Form profitieren auch Patient (weniger An- und Abreisen) wie auch der Arbeitgeber (weniger Zeitausfälle durch Therapiesitzungen) von dem neuen Angebot. Wer bislang extreme wirtschaftliche Nachteile hat, ist allein der Psychotherapeut: Sein teilweise erhebliches „Internet-Engagement“ wird bis heute mit keinem Cent vergütet, vielmehr wird er für sein innovatives Verhalten eher bestraft. Denn eine Verringerung der oft bürokratisch sehr aufwendig beantragten Therapiestunden führt dazu, dass pro Jahr mehr Patienten betreut werden müssen, was jedes Mal mit erheblichem bürokratischen Zusatzaufwand verbunden ist.

Zumindest für Privatpatienten ließe sich relativ unkompliziert eine Lösung entwickeln, indem sich deren Versicherer im Falle einer „internetgestützten Psychotherapie“ (gemäß der hier skizzierten Kriterien) zu folgenden zwei Zusagen bereit erklären würden: 1. pro Sitzung wird der GOÄ-Steigerungssatz auf den Faktor 3 erhöht (statt 2,3), 2. Doppelsitzungen werden grundsätzlich als sinnvolles Setting akzeptiert (und nicht als Ausnahme von der Regel).

In einer weiteren Studienphase ist geplant, Patienten wie auch Besuchern einschlägiger Websites geschlossene Fragen zu einzelnen Aspekten der „internetgestützten Psychotherapie“ vorzulegen (z. B. Wie schätzen Sie die Nützlichkeit eines solchen Angebots auf einer Skala von 1 bis 5 ein? Welchen Betrag würden Sie für eine E-Mail-Beratung gegebenenfalls selbst bezahlen?) Die Ergebnisse sollen quantitative Aussagen zur internetgestützten Psychotherapie ermöglichen.

Einschränkend bleibt nachzutragen, dass es sich hier um qualitative Erfahrungen eines einzelnen Therapeuten handelt, der diese Studie nur aus professioneller Begeisterung und überwiegend in seiner knapp bemessenen Freizeit durchführen konnte. Die Tatsache, das manche Therapeuten-E-Mail als Uhrzeit „Mitternacht“ vermerkte, blieb den Patienten nicht verborgen und wurde von ihnen (mit Recht) als Wertschätzung ihrer Person gedeutet. Allen teilnehmenden Patienten sei an dieser Stelle herzlich für ihre Mitwirkung gedankt.
 

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